Manchmal denke ich, ich bin nicht normal. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht den Tränen nah bin, weil mir etwas mit Mama einfällt. Eine gute Erinnerung, die Wanderungen, ihre liebevolle Art, ihr Humor und ihr verschmitztes Lachen.
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Wir imitieren Orgelpfeifen |
Alles, was mit ihr zu tun hat, macht mich traurig. Und dabei weiß ich, dass ihr das so gar nicht gefällt. Anfangs, ja, da trauert man. Aber dass es so lange anhält und womöglich nie vergeht, macht mir zu schaffen. Ich habe heute im Radio eine Frau gehört, die nach langer Ehe vor acht Monaten ihren Mann verloren hat. Sie erzählte es der Psychologin am anderen Ende der Leitung und brach plötzlich in Tränen aus - und ich mit ihr. Das war mir irgendwie peinlich, aber ich konnte sie so gut verstehen. Vorher war sie eine lebensbejahende, fröhliche Frau gewesen, sagte sie, und nun sei alles weg. Ich weiß nicht mehr, was die Psychologin geraten hat außer die Trauer zuzulassen und mit Bekannten zu reden, die sich anbieten. Wahrscheinlich meinte sie, dass der Schmerz irgendwann nachlässt, denn es sei ja erst vor kurzem geschehen im Vergleich zu der Dauer ihrer Ehe. Ich wünsche mir auch, dass er nachlässt, der Schmerz, ohne dass Mama zur Erinnerung verblasst (das kann eh nie passieren).
Hin und wieder überlege ich, Trauerportalen beizutreten oder einer entsprechenden Gruppe auf Facebook. Aber dort wird das Trauern nahezu zelebriert, und ich fürchte, dass mir das nicht hilft. Es ist sicher richtig, dass das Leben ohne den geliebten Menschen sich massiv verändert, und das nicht zum Guten. Dennoch hoffe ich, dass wir noch eine relativ gute irdische Zeit haben werden. Vielleicht bricht die Traurigkeit bei manchen Gelegenheiten wieder durch, aber das wäre besser, als ständig den Schmerz des Abschieds mit sich herumzutragen und beim nächstbesten Anlass loszuweinen.
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Mama auf Kur mit Kurschatten, 1970er |
Ich denke auch, dass es schwierig ist, Trauer zu verstehen, wenn man kein besonders gutes Verhältnis zu den Eltern hat, was bei vielen meiner Bekannten der Fall ist. Manche haben / hatten sogar lange keinen Kontakt mehr zu Mutter und Vater. Daher mag ich auch gar nicht mehr darüber reden. Die Antwort auf meine Trauer ist fast immer die gleiche. "Ihr wart halt als Familie so eng beisammen." Das trifft auf die Jahre 2020 - 23 zu, und ich bin froh, dass es so war. Unsere Wanderungen sind so wertvoll gewesen, weil wir uns während der Corona-Zeit etwas geschaffen hatten, das uns im Elend der weltpolitischen und inneren Spaltung zusammengeschweißt hat.
Mir fällt oft ein, wie abwechslungsreich Mamas Leben hier war. Wie viel sie gemacht, um wie viel sie sich gekümmert hat. Stillstand gab es bei ihr nie. Manchmal hätte sie sich vielleicht mehr Freizeit gewünscht, mehr Zeit mit ihrem Schatz und fürs Reisen, aber sie hat alles in Liebe getan. Wenn es ihr nicht leichtfiel, hat sie sich ermahnt, und ich weiß, ihre Hingabe und Liebe zu den Dingen, die sie anpackte, war immer authentisch. Nur mit dem Computer - da tat sie sich wirklich schwer. Aber es spricht für sie und ihre Neugier, dass sie es versucht hat.
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Mamas türkisfarbener Pullover |
Da sie auch gern gehäkelt, gestrickt und genäht hat, wollte ich das auch wieder aufnehmen, habe es aber noch nicht geschafft. Der Gedanke, ich käme nicht weiter mit einem Schnittmuster und müsste im Internet nachschauen statt Mama zu fragen, die mir alles geduldig erklärt und gezeigt hat, ist immer noch schmerzlich. Der Pullover, den ich auf dem Foto trage, ist ihrer. Ich habe ihn aufgehoben als eine der wenigen Sachen, die noch im Haus sind von ihr. Es klingt vielleicht hart oder wehleidig, aber wir wollten alle nicht von persönlichen Habseligkeiten abhängig sein. Es gibt eine von Nicole zusammengestellte Familiengalerie im Eingangsbereich (überwiegend Fotos vom Wandern), und auch handschriftliche Aufzeichnungen (ihre schöne Schrift, die ich stets bewundert habe, bringt mich zum Weinen), Klamotten und Schuhe - ein paar wenige, die man nicht weitergeben kann. Mama nimmt uns das nicht übel, das weiß ich. Ich habe sie mehr im Herzen und weiß sie bei Gott als dass ich mich an etwas klammere, das ihr gehört hat hier auf Erden. Eine Freundin, der wir eine Patchworktischdecke von Mama geschenkt haben, sagt immer, wenn wir dort sind: "Und guckt, die Elvi ist auch wieder dabei." Obwohl auch sie weiß, wo Mama in Wirklichkeit ist, tröstet mich dieser flapsige Spruch jedes Mal.

Es ist merkwürdig, dass jeder Mensch etwas hinterlassen will, wenn er geht. Auch Mama hat das gesagt, irgendwann mal, als es ihr nicht mehr so gut ging, selbst da sie es sicher besser wusste. Aber immerhin hat sie so viel bewegt hier, vieles ausprobiert und auch vielen Leuten in Gesundheitsangelegenheiten geholfen. Und das Allerwichtigste ist glaube ich, dass man seine Persönlichkeit entwickelt und sich und andere auf die Ewigkeit vorbereitet, ohne das Leben hier zu vernachlässigen. In der Ewigkeit geht der Spaß dann erst richtig los. Und das ist meine volle Überzeugung. Ohne Scheiß. Wenn ich bis dahin traurig sein muss, dann sei es so. Aber es wäre strenggenommen ein Rückschritt.
Auf dem Autorenportal "Pagewizz" habe ich nach Joschis Heimgang vor dreizehn Jahren einen Artikel über Trauerbewältigung geschrieben - und muss heute erkennen, dass es doch ein Unterschied ist, wenn Mensch oder Tier unwiderbringlich nicht mehr da sind. Allerdings habe ich um Joschi viele Jahre getrauert, wenn auch nicht so schmerzerfüllt und ständig wie um Mama.